Freitag, 15 September 2017
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Vanessa Welchen Bezug hast du zur Landwirtschaft, Michelle?

Michelle: Ich komme aus dem Wallis. Einige meiner Onkel waren Bauern, Winzer, Obstgärtner, Imker, Liebhaber der Eringer Kühe. Als Kind war ich oft auf dem Maiensäss oder bei meinem Paten.

Die Verbindung zur Landwirtschaft läuft auch über das Essen: Alpbutter, Weichkäse, Trockenfleisch, Spargeln, Aprikosen… Wir freuten uns jedes Jahr auf die Produkte, deren Herkunft wir kannten – es waren natürlich die besten der Welt!

Mein Bezug zur Landwirtschaft beschränkt sich nicht nur auf die Schweiz, weil ich lange für Fair Trade gearbeitet habe und dann, gemeinsam mit Bauernverbänden in Zentral- und Südamerika, für Max Havelaar. Ich habe vor Ort miterlebt, wie sich die Lage der Bäuerinnen und Bauern mit jedem neuen Freihandelsvertrag verschlechtert hat.


Michelle: Und du, Vanessa, wo bist Du aufgewachsen?

Vanessa Ich bin in einem Vorort von Lausanne zur Welt gekommen und habe dort bis 26 gewohnt. Ein vollendetes Stadtleben. Mein Vater ist viel zu früh von uns gegangen, er war Mechaniker, meine Mutter Kauffrau. Dennoch fühlte ich mich nur auf dem Land richtig wohl. Ein einziger Besuch auf dem Bauernhof reichte, um einen Entschluss zu treffen: eines Tages werde ich einen Bauern heiraten! Damals war ich 12. Es geschieht nicht alle Tage, dass ein Traum wahr wird.

Heute arbeite ich mit meinem Freund auf dem Bauernhof seiner Familie und ziehe unsere vier Kinder auf. Vor Kurzem haben wir die Milchproduktion aufgegeben und halten jetzt Mutterkühe. Ausserdem ziehen wir Küken auf und etwas Weinbau. Der Direktverkauf ist im Aufbau.

Daneben bin ich beim Bäuerinnen- und Landfrauenverband von Neuenburg im Vorstand und seit Jahresbeginn bin ich im Gemeinderat unseres Dorfes tätig.


Vanessa Wie hast Du Uniterre kennengelernt?

Michelle: Als ich noch bei Swissaid arbeitete, wurden mit allen NGOs der Romandie inklusive Uniterre mehrere Treffen zum Thema Landwirtschaft organisiert. Gérard Vuffray kam an diese Treffen. Uniterre wollte die NGOs ganz zu Recht für die Entwicklung der Schweizer Landwirtschaft sensibilisieren. Tatsächlich dachten die NGOs damals, dass in der Schweiz alles zum Besten stehe, wir sahen die Verbindungen nicht. Bei StopOGM lernte ich Fernand Cuche kennen und auch Gérard war wieder dabei. Bei Agridea habe ich dann mit Valentina zusammengearbeitet. Kurz und gut, ich kenne Uniterre nicht erst seit gestern!


Michelle: Warum engagierst Du dich für Uniterre? Und dein Talent zu Schreiben?

Vanessa Gute Frage! Als ich meinen Freund kennenlernte, erzählte er mir von den Blockaden vor der Migros-Zentrale Anfang der 2000er-Jahre und von seiner Gerichtsverhandlung, wo er eine symbolische Busse bezahlen musste. Dann kam der Milchstreik im 2009 und ich war sehr stolz, an dieser Bewegung teilzunehmen. Ich fühlte mich richtig gut, das waren meine Leute! Danach brauchte es einige Jahre Geduld bis die Kinder grösser waren, bevor ich mich richtig engagieren konnte. Heute entdecke ich ein aufregendes Tätigkeitsfeld, wo ich jeden Tag neue Menschen kontaktieren muss. Ich dachte nie, dass ich jemals so etwas sagen würde: Wenn man aus seiner Komfortzone hinaus muss, ist das sehr bereichernd.

Ganz allgemein habe ich mich immer für Politik interessiert, für Wahlen, für Bürgersinn. In der Schweiz haben wir ein System, das zwar langsam und höchst komplex ist, aber wir haben die Möglichkeit, unsere Ideale auszusprechen. Dieses Recht nicht zu nutzen, wäre eine Verschwendung. Obwohl, auch ich denke ab und zu, dass es einfacher wäre, mit geschlossenen Augen durchs Leben zu gehen.

Das Schreiben stammt noch aus meiner Matura mit Spezialfach Literatur (Latein-Englisch). Da entwickeln sich gewisse Kompetenzen ganz automatisch. Hinzu kommt, dass ich enorm viel lese. Ich verschlinge. Und wenn man das Schreiben mag, ist alles viel einfacher. Wenn man dann noch hört, das die eigenen Texte gefallen und den Erwartungen entsprechen, steigt auch die Motivation. Hingegen stelle ich fest, dass mich das Schreiben, speziell für Uniterre, auch sehr sichtbar macht. Daran muss ich mich erst noch gewöhnen.


Vanessa Warum hast Du dich bei Uniterre beworben?

Michelle: Während meiner 15 Jahre bei Agridea habe ich festgestellt, wie unglaublich erfindungsreich und kreativ die Bauernfamilien sind, um sich zu diversifizieren, um ihren Bauernhof zu erhalten. Das bedingt enorm viel Arbeit und die Verschmelzung von verschiedenen Berufen: bauern, käsen, schlachten, verkaufen, buchhalten usw.

Und während all dieser Jahre habe ich die Arbeit von Uniterre mitverfolgt und hatte Kontakt zu Valentina und Nicolas. Ich bin der Meinung, dass Uniterre dank ihrer Unabhängigkeit in der Schweizer Landwirtschaft eine Schlüsselrolle spiel. Sie ist Vorreiterin und Pionierin, aufgeklärte und kompetente Kritikerin, verwurzelt und visionär zugleich. Ich habe oft gesagt, dass ich gerne bei Uniterre arbeiten würde!

Und jetzt denke ich, dass die Ernährungssouveränität ein enormes Potenzial hat, das Potenzial, eine wirklich breite Debatte über die Landwirtschaft von Morgen zu führen.


Michelle: Was wünschst Du dir für die Bauernfamilien?

Vanessa Dass all die kleinen Initiativen, die überall entstehen, genügend Gewicht erhalten, dass sie die Situation so vollständig verändern, dass das industrielle Modell der Land- und Ernährungswirtschaft obsolet wird. Und dass die Landwirtschaft den Stellwert einnimmt, welcher ihr in der Bedürfnispyramide zusteht.


Vanessa Was möchtest du erreichen?

Michelle: Ich will zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen dazu beitragen, dass Uniterre stärker wird. Das bedeutet, dass sie den Erwartungen der Mitglieder so gut wie nur eben möglich entspricht, dass sie junge Aktivistinnen und Aktivisten der Landwirtschaft und des Konsumentenschutzes anspricht. Ich möchte, dass Uniterre von ihren Mitgliedern getragen wird.


Michelle: Und du, was willst Du bei Uniterre umsetzen?

Vanessa Ich möchte den Funken wieder entfachen, der macht, dass die Bäuerinnen und Bauern für ihre Rechte kämpfen. Ich möchte so motivierend schreiben, dass sie sich sagen: «Schau her, ich will an diese Versammlung gehen, die haben gute Ideen!»


Vanessa Was ärgert dich an der Landwirtschaft am meisten?

Michelle: Dieser elende Pragmatismus ist eine permanente Frustration, dieses Denkschema «es ist halt so, das geht nicht anders». Diese Blindheit macht, dass Systeme erhalten bleiben, die seit Jahrzehnten marode sind und jeder nur noch um sein eigenes Überleben kämpft (wobei die Lage im Primärsektor am schlimmsten ist).

Ich ärgere mich über die Tatsache, dass der Rohstoff (die Grundlage der Ernährung und jeglichen Handels mit Agrargütern) nicht honoriert wird, heisst, dass die Preise nicht dem Wert entsprechen. Wie viele Stellen werden dank den Bäuerinnen und Bauern generiert (im vor- und nachgelagerten Sektor)?


Vanessa Und was magst du am liebsten?

Michelle: Die Annäherung zwischen Produzenten und Konsumenten. Die vielen Initiativen auf diesem Gebiet zeigen, dass es (auch) anders geht!


Michelle: Was sollte man zuerst ändern?

Vanessa Das Vertrauen der Bäuerinnen und Bauern in ihren eigenen Wert. Das vergessen wir vor lauter Arbeit, unbefriedigender Tätigkeiten und dem lächerlichen Lohn, den wir für unsere Arbeit erhalten. Dabei sollten wir die Könige sein, denn in unseren Händen befindet sich das Land, das Wissen und die Leidenschaft. Wenn wir uns dessen bewusst werden, öffnen sich alle Türen, die Schranken fallen und wir machen uns das System, das uns bisher total entgangen ist, wieder zu eigen.