Freitag, 26 Juni 2015

LVC ArgentinaAlice Froidevaux, Sympathisantin von Uniterre,  konnte am 6. Kongress der Lateinamerikanischen Koordination der Bauernorganisationen (CLOC-La Vía Campesina) teilnehmen. Nach der Rückkehr in die Schweiz berichtet sie uns über ihre Eindrücke. 

 

 

Buenos Aires, Argentinien an den Kongress von CLOC-LVC gefahren bist?

Seit 2013 schreibe ich am Lateinamerikanisch-Schweizerischen Zentrum der Universität St. Gallen meine Doktorarbeit. In meiner Arbeit beschäftige ich mich mit dem Phänomen internationaler sozialer Bewegungen. Als Fallbeispiel dient mir die internationale Bauernbewegung La Vía Campesina (LVC). Geographisch konzentriert sich mein Projekt auf Lateinamerika, was durch die starken historischen Wurzeln der Bewegung in dieser Region begründet wird. Auf einer ersten Forschungsreise im Frühling 2014 habe ich verschiedene Mitgliederorganisationen der Lateinamerikanischen Koordination der Bauernorganisationen (CLOC) - also der Vertretung von LVC in Lateinamerika - besucht. Als Folge der guten Kontakte, die auf der Reise entstanden sind, wurde ich dann an den 6. Kongress der CLOC-LVC im April 2015 eingeladen. 

Der Kongress wird alle vier Jahre abgehalten und ist in erster Linie ein internes Treffen der Delegierten der CLOC-LVC aus allen Ländern Lateinamerikas, um die Strategie und die Agenda für die nächsten Jahre zu definieren. Diesen Anlass einmal live mitzuerleben, war für mich eine hervorragende Gelegenheit, um die Arbeit von CLOC-LVC besser zu verstehen.

Du beschreibst La Vía Campesina als «soziale Bewegung», was meinst du damit?

In den Sozialwissenschaften wird unter einer sozialen Bewegung ein kollektiver Akteur verstanden, der mit unterschiedlichen Mobilisierungs- und Handlungsstrategien versucht, einen gesellschaftlichen Wandel zu erreichen. Dabei gibt es unterschiedliche Organisationsgrade. Während am Anfang meist sehr offene und informelle Organisationsformen vorherrschen, werden mit der Zeit oft formelle Organisationstrukturen geschaffen; zum Beispiel durch eine klare Zuteilung von Aufgaben und Verantwortung (Delegierte, Sektionen, Kommissionen), eine geregelte Mitgliederaufnahme usw. 

La Vía Campesina kämpft auf internationaler Ebene für einen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel: Die Bewegung spricht sich klar gegen das herrschende patriarchal-kapitalistische Weltsystem und gegen eine neoliberale Wirtschafts- und insbesondere Agrarpolitik aus. Mit dem Konzept der Ernährungssouveränität liefert LVC ein Gegenmodell zur Globalisierung und Liberalisierung der Agrarmärkte. Auch wenn LVC sehr klare und formelle Organisationsstrukturen aufweist, ziehe ich es vor, von einer Bewegung zu sprechen - vor allem auch um den Basischarakter hervorzuheben und LVC von anderen ‚Organisationen’ wie zum Beispiel NGOs abzugrenzen. Auch LVC selbst bezeichnet sich als „Internationale Bauernbewegung“. 

Welche Themen wurden am Kongress behandelt?

Der ganze Anlass war in drei Teile gegliedert: Die Versammlung der Jugendsektion, die Versammlung der Frauensektion und der eigentliche Kongress. Bei der Jugendversammlung standen zwei Herausforderungen im Zentrum der Diskussion: Auf der einen Seite die bessere Integration der Jugendlichen in die Arbeit und die Entscheidungsprozesse von LVC und auf der anderen Seite der Aufbau von Allianzen zwischen der ländlichen und der städtischen Jugendbewegung. Die Frauenversammlung stand unter dem Titel „Ohne Feminismus gibt es keinen Sozialismus“. Ein Hauptziel des Treffens war es, eine Definition für einen „bäuerlichen Volksfeminismus“ (feminismo campesino y popular) auszuarbeiten. 

Am dreitägigen Kongress aller CLOC-LVC Delegierten fanden dann einerseits themenzentrierte Debatten statt, zum Beispiel zu Agrarreform, Ernährungssouveränität, Agroökologie, Indigene Völker, Migration und Lohnarbeit, Menschenrechte, etc. Andererseits wurde über interne Mechanismen und Strategien im Bereich der Kommunikation und der (Weiter-)Bildung diskutiert. 

Umrahmt wurde alles von einem omnipräsenten politisch-ideologischen Diskurs, der geprägt ist von der Idee einer kontinentalen lateinamerikanischen Einheit im Widerstandskampf gegen Kapitalismus und Imperialismus sowie von der Vision eines sozialistischen Zukunftsprojektes. 

Geschlossen wurde der Anlass mit einem grossen Demonstrationsmarsch durch Buenos Aires am 17. April, dem Internationalen Tag des Bauernkampfes.

Was unterscheidet die Ausrichtung von CLOC-LVC von bäuerlichen Organisationen in Europa?

Ein Punkt ist hier wohl, was ich bei der vorherigen Frage am Schluss angesprochen habe. Die CLOC-LVC hat einen viel stärkeren politisch-ideologischen Diskurs als zum Beispiel bäuerliche Bewegungen in Europa. Man stellt sich rigoroser gegen das kapitalistische System als bei uns. Begriffe wie Sozialismus oder Revolution gehören in Lateinamerika ganz natürlich dazu, während sie in Europa vermieden werden oder man sich zumindest schwer damit tut. Dies ist auf die unterschiedlichen historischen, politischen und sozialen Entwicklungen der beiden Kontinente zurückzuführen. 

Auch die Bedeutung gewisser Themenbereiche und Kampagnen ist unterschiedlich. Während zum Beispiel die Forderung nach einer Agrarreform in Lateinamerika noch immer ganz oben auf der Agenda der Bauernorganisationen steht, ist das Thema in Europa nicht das wichtigste. Ein anderes Beispiel ist die LVC-Kampagne „Schluss mit Gewalt gegen Frauen“. Sie ist zum Beispiel in Zentralamerikanischen Ländern, wo Gewalt gegen Frauen sehr weit verbreitet ist und zudem eine hohe Straffreiheit besteht, viel sichtbarer (durch Aktionen etc.) als in Europa. 

Aber nicht nur die Ausrichtung von CLOC-LVC und bäuerlichen Organisationen in Europa und der Schweiz sind unterschiedlich. Auch die Umstände für eine bäuerliche Mobilisierung sind nicht dieselben. In vielen Ländern Lateinamerikas herrscht eine starke Repression gegen Aktivisten; sie werden bedroht, eingeschüchtert und sogar umgebracht weil sie für ihre Rechte einstehen.

Die jungen Menschen sind stark vertreten in der CLOC-La Vía Campesina - was fordern sie ein?

Die Jugend kämpft in erster Linie für reale Zukunftschancen der (Klein-)Bauern und für einen Erhalt und die Aufwertung der bäuerlichen sowie der indigenen und afrolateinamerikanischen Kultur. Viele Kleinbauern sind in einer schlechten wirtschaftlichen Lage. Oft fehlt der Zugang zu Land für die Produktion, wodurch viele ländliche Bewohner gezwungen sind, unter schlechten Bedingungen als Landarbeiter auf den Plantagen internationaler Konzerne zu arbeiten. Dazu kommt, dass der Beruf „Bauer“ in der Gesellschaft einen schlechten Ruf hat. Die Bauern werden als faul, dumm, rückständig und arm abgestempelt. Diese Situation führt auch dazu, dass viele Jugendliche nicht auf dem Land bleiben und in die Stadt abwandern. Auch deshalb ist es der Jugendsektion von CLOC-LVC wichtig, dass die ländliche und die städtische Jugendbewegung zusammenarbeiten - durch die Land-Stadt-Migration sind das keine gegensätzlichen Bewegungen mehr.

CLOC-LVC intern fordern die jungen Mitglieder, dass sie stärker in alle Organisationsprozesse eingebunden werden und auch bei den wichtigen Entscheiden mitreden können. Sie wollen nicht nur bei den Aktionen und Demonstrationen an vorderster Front mitlaufen und so der Bewegung ein aktives und dynamisches Gesicht geben. Sie wollen mitgestalten.

Welche Verantwortung tragen wir, als Mitglied von La Vía Campesina - bezüglich z.B. GVO, Globalisierung und Freihandelsabkommen?

Das Ziel ist es, dass alle Mitgliederorganisationen von LVC laufende internationale Kampagnen umsetzen und in ihrem Land auf die Themen der LVC-Agenda aufmerksam machen. Es ist klar, dass nicht in jedem Land oder in jeder Region dieselben Themen relevant sind. Es geht aber um die gemeinsame Erkenntnis, dass durch die Globalisierung und den Neoliberalismus die Landwirtschafts- und Ernährungspolitik eben weltweit zusammenhängen. Es geht also alle überall etwas an.

Die LVC-Mitgliederorganisationen der verschiedenen Länder müssen entscheiden, welche Art von „Kampf“ im lokalen Kontext Sinn macht. Uniterre hat zum Beispiel die Strategie gewählt, eine Initiative für Ernährungssouveränität zu lancieren. Ich finde diesen Schritt vor allem deshalb wichtig, weil er zeigt, dass Ernährungssouveränität nicht nur ein Konzept für die Bauern in sogenannten Entwicklungsländern ist. Auch hier muss eine Debatte um die Rechte der Bäuerinnen und Bauern, der landwirtschaftlichen Mitarbeiter/-innen und der Konsument/-innen geführt werden. Es geht um faire Löhne und faire Preise, Markttransparenz, die Stärkung von lokalen Produktions- und Handelskreisläufen, eindeutige Produkte-Information, einen rücksichtsvollen Umgang mit der Natur, usw. Obwohl die Vorlage wohl zu „radikal“ ist, um eine Mehrheit zu erhalten, gelingt es Uniterre damit hoffentlich, eine dringend nötige Grundsatzdiskussion über die Schweizer Agrarpolitik anzustossen.

Starke Eindrücke?

Gesamtatmosphäre während des Kongresses war für mich sehr eindrücklich. Es nahmen rund 1000 Personen teil. So viele engagierte, motivierte Aktivistinnen und Aktivisten an einem Ort - mutige Menschen mit sehr interessanten Geschichten - ergaben eine sehr energiegeladene Stimmung. Zusätzlich war der Kongress sehr laut. Das meine ich aber im positiven Sinne. Es wurden oft zusammen Slogans gerufen oder Lieder gesungen. Generell hatte Musik (ob spontan oder geplant) sehr viel Platz: von brasilianischen Trommeln, über traditionelle indigene Gesänge bis zu argentinischem Pop-Rock. 

Ganz speziell und schon ein fester Bestandteil der LVC-Kultur sind die sogenannten Místicas. Das sind kleine szenische Vorführungen, in welchen Geschichten des Bauernkampfes erzählt und symbolisch bäuerliche und indigene Werte dargestellt werden. Eine Hauptfunktion der Místicas ist es, den Zusammenhalt zu fördern und den Kampfgeist zu stärken. Jeweils zur Eröffnung und zum Abschluss eines Tages runden sie das Programm ab. Bei der Vorbereitung der Místicas nehmen übrigens die Frauen die tragende Rolle ein.

Was nimmst du persönlich für dein Leben und deine Arbeit in der Schweiz mit von dieser Konferenz?

Beim Schreiben meiner Doktorarbeit ist es mir sehr wichtig, den Praxisbezug nicht zu verlieren. Ich möchte nicht einfach in meinem Büro eine wissenschaftliche Arbeit über La Vía Campesina schreiben. Vielmehr möchte ich die Bewegung erleben, um zu verstehen wie sie funktioniert und wie die Beteiligten arbeiten. Der Besuch des Kongresses war somit eine sehr wertvolle Erfahrung für meine Arbeit.

Auch für mein Leben habe ich einiges dazu gelernt. Ich habe viele interessante und bewundernswerte Personen kennen gelernt und auch Freundschaften geschlossen. Vor allem der Mut dieser Leute, unermüdlich für ihre Rechte einzustehen, auch wenn sie sich damit oft in Gefahr bringen, hat mich sehr beeindruckt und mich erneut angespornt, hier in der Schweiz meinen Teil beizutragen: Ich versuche zum Beispiel bewusster zu konsumieren, sammle Unterschriften für die Ernährungssouveränitätsinitiative, oder laufe am internationalen Demonstrationsmarsch gegen Monsanto mit. In einer globalen Welt braucht es internationale Solidarität, um Veränderungen hervorzurufen. Wie es der Leitspruch von LVC so schön sagt: „Globalisieren wir den Kampf, globalisieren wir die Hoffnung!“

Fragen stellte Ulrike Minkner