In Enges, auf der Anhöhe über Cressier, ist der Parkplatz vor dem Bauernhof von Vanessa Renfer und Etienne Richard oft besetzt. Es hat Lieferwagen, Autos, Kleinlaster, einen Traktor. Dieser Andrang ist ein gutes Zeichen, der Bauernhof lebt, bewegt und entwickelt sich - aber wohin ? Wir werden es in diesem Interview mit Vanessa Renfer erfahren. Sie ist Bäuerin und Delegierte der Sektion Neuenburg im Vorstand von Uniterre.
Vanessa, im Vorstand von Uniterre sprechen wir oft über den Bauernstand, aber selten über Bäuerinnen. Wer bist Du und wie sieht dein Lebenslauf aus ?
Ich bin aus Liebe zu Etienne Bäuerin geworden. Wir haben zusammen vier Kinder - Aurélien, Fiona, Thalia und Isaline - sie sind zwischen 3 und 11 Jahre alt. Ich bin 38 und seit rund zehn Jahren auf unserem Betrieb angestellt.
Meine Kindheit habe ich in der Stadt verbracht. Ich bin in Lausanne aufgewachsen, fern von der Landwirtschaft. Während meiner Jugend hatte ich das Glück, vier Praktika auf Bauernbetrieben in der Region Gros-de-Vaud zu machen, dank der Organisation „Horizon ferme“ (Landdienst). Ich habe diese Aufenthalte geliebt. Zweifellos habe ich das Landleben ein wenig allzu sehr idealisiert, denn die Realität heute ist schon ein wenig anders (lacht). Aber ich bedaure nichts. Ich bin mit meinem Leben sehr zufrieden. Nachdem ich die Matura in der Tasche hatte, wollte ich zuerst die Ausbildung als Agraringenieurin in Zollikofen machen. Also habe ich das obligatorische Praktikumsjahr auf einem Bauernhof gemacht. Aber dann konnte ich mir nicht vorstellen, Landwirtschaft im Klassenzimmer zu lernen. Also habe ich mich umorientiert und habe eine medizinische Ausbildung in der Pflege gemacht. Das ist zwar eine ganz andere Welt, die mich aber auch interessiert. Ich habe an der Schule von Chantepierre die Ausbildung zur Krankenschwester und dann zur Hebamme gemacht. Das hat mir gefallen. 2005 habe ich abgeschlossen. Damals kannte ich Etienne schon, er war Bauer und hatte bereits den Familienbetrieb übernommen. Also bin ich ihm gefolgt und wir haben uns alle beide hier niedergelassen.
Du bist auf dem Betrieb an-gestellt. Wie funktioniert das ?
Ich bin direkt nach der Ausbildung hierher gekommen. So habe ich meinen Beruf als Hebamme nie aufgenommen und wir sind auch nicht verheiratet. Deshalb war es für mich wichtig, für meine Arbeit einen Lohn zu beziehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, ohne Lohn zu arbeiten. Mit Lohn konnte ich bei den Sozialversicherungen einzahlen, ich hatte einen Status, war finanziell unabhängig und ausserdem hat es mich motiviert, mehr Verantwortung auf dem Hof zu übernehmen. Das war für Etienne und mich wichtig.
Findest Du die Debatte über den Status der Bäuerin wichtig ?
Ja, sehr. Auch wenn ich kein Diplom als Bäuerin habe, bin ich beim Verein für Bäuerinnen und Landfrauen Neuenburg sehr aktiv. Ich bin Sekretärin des zentralen Vorstands. Dieser Verein ist mir wichtig. Ich komme nicht vom Land, aber so konnte ich viele Frauen aus der Region kennenlernen und entdecken, dass es so viele verschiedene wirtschaftliche und soziale Situationen gibt, wie Bäuerinnen. Wir leben alle in einer anderen Realität. Viele haben eine bezahlte Arbeit neben dem Bauernhof, aber nur wenige haben meinen Status. Das ist erstaunlich. Für mich als Aussenstehende war das anfänglich schwer zu verstehen.
Wir sind rund 900 Mitglieder. Nicht alles sind Bäuerinnen, aber wir fühlen uns alle als Landfrauen, im nobelsten Sinne des Wortes.
Was für Aktivitäten organisiert der Verein ?
Wir setzen uns für eine gewisse Vision des Landlebens ein : was es für die Ernährung bedeutet, für die Gastfreundlichkeit, die Kultur, die soziale Kompetenz, das Fachwissen und die Weiterbildung. Wir bilden regionale Gruppen. Jede Gruppe organisiert übers Jahr verschiedene Aktivitäten. Von Theateraufführungen über Rezeptbücher über die Organisation von Kursen bis hin zur Präsenz an verschiedenen Events. Daneben führen wir eine permanente Debatte über den Status der Bäuerin. Wir stehen in regelmässigem Kontakt mit der nationalen Dachorganisation und anderen Berufsverbänden. Unsere Aktivitäten regen viele Frauen - Bäuerinnen oder nicht - dazu an, mitzumachen. Diese Vielfalt ist eine grosse Bereicherung.
Gibt es innerhalb des Vereins einen politische Debatte ?
Nicht wirklich, die Organistion nimmt auf kantonaler Ebene nicht öffentlich Stellung. Wir führen keine offiziellen politischen Debatten. Natürlich haben wir unsere Meinungen, aber das ist nicht offiziell, sondern bleibt unter uns. Aber auf nationaler Ebene nimmt die Organisation Stellung. Oft haben die Frauen eine ziemlich klare Vorstellung der wirtschaftlichen und sozialen Gesundheit der Bauernbetriebe. Aus diesem Grund ist es wichtig, sich auszutauschen, damit man eine globale Sicht der Situation erhält.
Und wie sieht diese Situation bei dir aus ?
Wir haben einen der letzten Milchbetriebe im Dorf. In den letzten Jahren haben viele wegen der tiefen Milchpreise aufgehört. Wir machen weiter, aber nicht mehr so leidenschaftlich. Wir müssten investieren, um zu überleben, aber das lehnen wir ab. Der Mark ist viel zu prekär. Wir liefern 120 000 kg Industriemilch an Prolait. Obwohl unser Betrieb nicht so hoch liegt (820 m. ü. M.) sind wir in Bergzone 1 und 2. Wir haben kein flaches Land. Unser Boden (insgesamt 37 ha) ist typisch für den Jura : leicht, trocken und durchlässig. Die Kulturen leiden schnell unter der Trockenheit. Neben dem Dauergrünland haben wir Silomais, Weizen und Gerste. Daneben haben einen Weinberg von 30 Aren in Cressier. Das ist eine der Lieblingsarbeiten von Etienne. Er geht gerne dorthin, um sich um die Reben zu kümmern.
Wie könnt Ihr Eure Löhne bezahlen, beim derzeitigen Milchpreis ?
Diesbezüglich ist die Milch fast zu einem Nebeneinkommen geworden. Wir haben uns seit vielen Jahren auf die Aufzucht von Kücken und den Verkauf von Masthennen spezialisiert. Wir erhalten sie aus der Brüterei in Belp, wenn sie 1 Tag alt sind, und verkaufen sie im Direktverkauf an Privatpersonen, wenn sie erwachsen sind, also mit 26 Tagen.
Warum kaufen die Privatpersonen ihre Kücken nicht direkt in der Brüterei ?
Während den ersten 26 Wachstumstagen sind die Kücken empfindlich für Temperaturschwankungen, Krankheiten usw. Viele Privatpersonen wollen dieses Risiko nicht tragen und ziehen es vor, die Tiere nur zu mästen. Also übernehmen wir die Aufzucht. Das wird geschätzt, ist aber mit viel Aufwand verbunden. Wir müssen sowohl die Kücken jederzeit überwachen, als auch eine gute Beziehung zu den Kunden erhalten. Letztere sind oft sehr verschieden und haben unterschiedliche Hintergründe. Wir haben Stadtleute, die wollen zwei Hühner für ihren Garten und Züchter, die 300 Tiere aufs Mal bestellen.
Wir ziehen jedes Jahr 17 Gruppen auf, das sind mehrere tausend verkaufte Masthennen. Etienne und ich ergänzen uns bei dieser Arbeit bestens. Ich mache den Teil Kundenkontakt, beantworte zahlreiche E-Mails, mache Telefonate und gebe Ratschläge zur Zucht, besonders zu Futter- und Haltungsfragen. Etienne macht die Aufzucht und die Lieferungen. Er mag den direkten Kontakt.
Da wir gerade von Mast sprechen, wie ist das mit den Schlachthäusern im Kanton ?
Wir haben Glück. Wir haben noch Schlachthäuser für Geflügel im Kanton. Die stehen auch Privatpersonen offen. Das ist wirklich eine grosse Chance für uns. Hoffentlich gehen sie nicht ein !
Wie habt Ihr euren Kundenstamm angeworben ?
Das war am Anfang gar nicht einfach. Wir platzieren regelmässig Annoncen im Agri und im Terre&Nature. Daneben zählen wir auf Mund-zu-Mund Propaganda und auf unseren guten Ruf. Neben der weissen Rasse „Ross“ haben wir auch braune Kücken für Biobetriebe. Sie wachsen langsamer, sind aber resistenter und ihr Fleisch ist sehr geschmackvoll, deshalb sind sie beliebt. Wir haben uns wegen der Nachfrage diversifiziert.
Verkauft ihr sie unter Vertrag ?
Nein, nicht wirklich. Wir verkaufen sie pro Stück. Viele Kunden kommen regelmässig. Ein Vertrag wäre denkbar, aber man müsste überlegen, in welcher Form. Damit könnten wir unsere Aufzucht anders planen.
Bei der Anfahrt habe ich gesehen, dass Ihr auf dem Briefkasten für eine Brauerei Werbung macht - besteht da eine Verbindung zum Hof ?
Ja, wir mieten schon seit einiger Zeit ein Raum in der Brasserie des 3 lacs. Ein Freund von uns hat die Brauerei aufgemacht und produziert auf Bestellung. Er ist mit Herz und Seele dabei und macht Spezialitäten wie das „3 céréales“, das zusätzlich zur Gerste auch Mais und Weizen enthält. Wir mögen diese Art der originellen Zusammenarbeit. Wir erhalten mehr Besuch und das ist wichtig, wenn man Direktverkauf macht. Ausserdem können wie die neuen Kreationen immer frisch degustieren (lacht).
Wie bist Du zu Uniterre gekommen ?
Etienne ist schon lange Mitglied bei Uniterre. Er war damals mit dabei, als sie die Zufahrt zu Coop und Migros gesperrt haben. Er hat auch den Prozess mitverfolgt. Ich habe mich 2009 bei Uniterre engagiert, mitten im Bauernaufstand. Aline Franel habe ich an einer Konferenz getroffen. Das war eine unglaubliche Zeit. Wir gingen auf die Strasse, die Landbevölkerung war aufgewacht. Ich erinnere mich daran, dass ich auf dem Internetforum „jeunes mamans“ über das Problem der Milchpreise diskutiert habe. Ich habe ihnen erklärt, was los ist. Wir erhielten von überall Unterstützung. Meine Kinder sind zwar noch jung, aber daran erinnern sie sich auch. Danach bin ich dem Vorstand in Neuenburg beigetreten.
Wo ist diese Wut heute ?
Nun, die Wut der Bäuerinnen und Bauern ist immer noch da, auf dem Land. Es ist eine kalte Wut im Bauch, aber sie kann sich nicht mehr ausdrücken. Was fehlt, ist die Bewegung, der Funke. Wir haben es bei Uniterre nicht geschafft, diese Bewegung nach 2009 aufrecht zu erhalten. Ja, es gab SAM, aber diese Bewegung wurde innert kürzester Zeit durch interne Spannungen zerrissen. Aus heutiger Sicht denke ich, dass SAM eine Bewegung hätte bleiben sollen, ohne Struktur. Eine Art landwirtschaftliche Wache, die auf die Aktualität reagiert. Das war ihre Stärke und hat ihre Glaubwürdigkeit ausgemacht. Uniterre könnte sich davon inspirieren lassen.
Wie kann der Funke wieder überspringen ?
Nach diesen mageren Jahren für Uniterre haben sich viele der damaligen Leader zurückgezogen. Uniterre hat mit der Initiative für Ernährungssouveränität ein grosses Projekt lanciert. Wir in Neuenburg waren eigentlich dagegen, weil wir fanden, die Initiative sei weit entfernt von unserer Realität. Unsere Mitglieder waren nicht bereit, die nötige Unterstützung aufzubringen. Schliesslich haben wir den Beschluss der Hauptversammlung übernommen und mit einem gewissen Erfolg angefangen, Unterschriften zu sammeln. Das hat geklappt und jetzt, im Nachhinein, können wir nur stolz darauf sein. Auch wenn nicht die ganze Basis mitgemacht hat, konnte sich Uniterre einen Platz auf dem nationalen Spielbrett der landwirtschaftlichen Organisationen erkämpfen. Wir haben ein nationales Netzwerk aufgebaut, das in viele andere Milieus hineinreicht und wir vertreten die Ernährungssouveränität lautstark. Was wir geschafft haben, ist fantastisch - aber zu welchem Preis !
Dieser Winter ist vielleicht der richtige Zeitpunkt, damit der Funke auf dem Land wieder überspringt. Die Initiative wurde eingereicht und das Abstimmungsdatum ist noch nicht bekannt. Jetzt haben wir Zeit, den nächsten Kampf vorzubereiten.
Was sind deine Vorschläge ?
Wir müssen die Kapazität finden, sofort in den Medien auf die Aktualität zu reagieren. Das Beispiel Schweinefleisch diesem Herbst war frappierend : keine Kammer hat reagiert und Uniterre auch nicht. Keine landwirtschaftliche Organisation hat Stellung genommen. Sie haben sich von der Realität der Familienbetriebe losgelöst. Uniterre muss ihre mediale Führungsrolle wieder übernehmen. Die Stimme der Bäuerinnen und Bauern muss gehört werden, überall und jederzeit. Das ist wichtig, auch für die Abstimmungskampagne.
Heute, mit den sozialen Medien, erfolgt die Verbreitung von Informationen unmittelbar. Wir müssen das benützen, informieren. Zwischen der Wahrnehmung der Landwirtschaft durch die Gesellschaft und der Realität klafft ein Graben, der immer tiefer wird. Alle Bevölkerungsschichten haben ihre Probleme und es ist nicht einfach, gehört zu werden, obwohl wir so viel zu sagen hätten.
Ich denke, dass auch positive Aktionen in der Agenda von Uniterre Platz haben. Märkte, Konferenzen usw. ermöglichen es, die Dynamik in den Sektionen zu verbessern.
Daneben bin ich eine Anhängerin der medial wirksamen Protestaktionen, sie provozieren eine Schockwelle, in deren Nachgang viele gefasste Meinungen ins Wanken kommen und neue Überlegungen angeregt werden. Manchmal entsteht aus einem „kreativen Chaos“ eine Lösung, gezwungenermassen, um aus der Krise hinauszufinden.
Bei der heutigen Lage der Landwirtschaft müssen wir alle Formen der Mobilisierung versuchen. Uniterre hat nichts zu verlieren und muss etwas wagen. Wenn Uniterre nichts macht, macht niemand etwas. Die Bäuerinnen und Bauern warten nur darauf, dass der Funke überspringt. Und wenn der richtige Moment gekommen ist, werden sie da sein.
Das Gespräch führte Nicolas Bezençon
Übersetzung : Stefanie Schenk
Uniterre Zeitschrift - November 2016
Bäuerinnen und Landfrauen Neuenburg : paysannes-neuchateloises.ch