Freitag, 10 März 2017

agriUrbaine-webUrbane Landwirtschaft ist Mode. Mehr und mehr Flächen werden als Garten-, Gemüse- und Obstanlagen genutzt. Solche Initiativen sind sehr förderlich und aufgrund ihrer Grösse verdienten sie es zum Teil, als Landwirtschaft bezeichnet zu werden. Doch urbane Landwirtschaft wird gemeinhin als eigenständiger Sektor betrachtet, als nicht zur Landwirtschaft gehörend, weil man sich nur am urbanen Umfeld orientiert. So bekommt die landwirtschaftliche Tätigkeit in diesem Umfeld einen Stempel aufgedrückt; als animierter Gartenbau, als pädagogische (Mini-)Tierhaltung, als Verkaufsvitrine für regionale Produkte oder als Raum für Freizeitgestaltung.

 

 

Aber urbane Landwirtschaft ist keine Mode und sie beschränkt sich auch nicht auf ein paar Gemüsepflanzen oder auf eine Erholungszone für gestresste Stadtbewohner. Sie ist keine allgemeingültige Antwort auf die Fragen der globalen Ernährung, wenn auch die FAO schätzt, dass weltweit beinahe zwei Drittel der städtischen und vorstädtischen Haushalte einer landwirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen. Für rund 800 Millionen Stadtbewohner ist diese Art der Landwirtschaft eine Einkommens- und Nahrungsquelle. 90 % der Haushalte, die urbane Landwirtschaft betreiben, sind auch in der Konservierung und Lagerung mit geringem Input aktiv. Die Tierhaltung in Stadtrandbezirken trägt weltweit 34 % zur Fleischproduktion und 70 % zur Eierproduktion bei. Auch die Verarbeitung in Stadtrandbezirken nimmt zu. Die Systeme der urbanen Landwirtschaft sind genauso den Hygienebestimmungen, der guten landwirtschaftlichen Praxis (Input-Management, Wasser, Pflanzenschutzmittel, Düngemittel usw.) und den Tierschutznormen unterstellt, um Gefahren für die Umwelt und die Gesundheit zu vermeiden.

Die Unterscheidung zwischen industrieller und bäuerlicher Landwirtschaft gilt auch im urbanen Kontext. Einerseits gibt es eine energieintensive Hors-sol-Landwirtschaft (Dünger, Pflanzenschutz, Saatgut, Produktionsmittel), deren Produkte zum Weltmarktpreis im Detailhandel landen, andererseits gibt es eine unabhängige, lokale Kreislauf-Landwirtschaft, welche ihr eigenes Saatgut nachzieht, eigenen Dünger produziert und die Preise direkt mit den Kunden verhandelt. In dieser Hinsicht gehören die vertikale Landwirtschaft (vertical farming) und die Aquaponik eher zur industriellen Landwirtschaft.

Mobilisieren - Verbinden

Im städtischen Gebiet machen landwirtschaftliche Tätigkeiten Sinn, wenn sie zu einem Glied in einer kurzen Nahrungskette werden und Beziehungen zu weiter entfernten Bauern bilden. In diesem Sinne gehört urbane Landwirtschaft zum landwirtschaftlichen Sektor. Wenn wir von dieser Tatsache ausgehen, kann auch ihre Aufgabe breiter werden. Anstatt sich auf die Besetzung marginaler Räume, pseudo-landwirtschaftlicher Attraktionen oder ein wenig Grün inmitten der Gebäude zu beschränken, kann sie eine Verbindung zu der Landwirtschaft herstellen, welche für die Ernährung der Bürgerinnen und Bürger zuständig ist.

Urbanismus und Rolle der Städte

Die Welt der Städtebauer muss sich an der Debatte über grundlegendste Fragen beteiligen: Wo, wie, durch wen und unter welchen Bedingungen sollen die Nahrungsmittel der Bürgerinnen und Bürger hergestellt werden? Welchen Platz sollen Bauern und Stadtbewohner bei der Wahl eines Ernährungssystems einnehmen? Wo sollen die Flächen liegen, mit denen wir die Bewohner der zukünftigen Quartiere ernähren? In Genf, in der Schweiz, Italien, Brasilien oder Indien? Wo werden sie verarbeitet, verpackt? Kann eine Demokratie solche Entscheide der Industrie und dem Handel überlassen? Die Schweiz ist so dicht bevölkert, dass ein grosser Teil der Landwirtschaft bereits heute im Vorstadtgebiet liegt.

Weltweit sind Ernährungssystem und Landwirtschaft für 50 % der Treibhausgas-emissionen verantwortlich. Ihre Auswirkungen auf das Klima sind wichtiger als diejenigen der Isolierung von Gebäuden, auch wichtiger als der gesamte Transportsektor. Die meisten Emissionen entstehen wegen der industriellen Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsmethoden, aber auch wegen der immer länger werdenden Zulieferketten.

In einer Welt, in der die Mehrheit der Menschen in der Stadt lebt, bilden städtische Gemeinschaften als Machtzentren, als Akteure mit demokratischen Rechten, eine wichtige Rolle beim Übergang zu nachhaltigeren, lokaleren Ernährungssystemen. Die Frage der Ernährung bildet ein eigenes Gebiet des Urbanismus. Wie bei der Agrarpolitik geht es dabei primär um eine Ernährungspolitik, welche die gesamte Gesellschaft betrifft. Ihre Rolle ist die Produktion unserer Nahrung im Einklang mit den Ökosystemen (Fruchtbarkeit der Böden, der Flora und der Fauna).

Die Gemeinschaften können die Bildung von lokalen Beziehungsnetzen fördern, den Austausch begünstigen, den Ausdruck der Nachfrage stimulieren, damit die Produzenten einer Region ihr Angebot besser ausrichten können. Für die Stabilität und Sicherheit, wie auch für den sozialen Zusammenhang, sind viele unterschiedliche, kleinbäuerliche und ganzheitliche Bauernbetriebe vorzuziehen, welche auf dem ganzen Gebiet verteilt sind, inklusive in der Stadt.

Quartiere als Mittelpunkt für Ernährung

Die städtebauliche Planung hat Mittel, um kurze Kreisläufe zu fördern, beispielsweise mit Lagerräumen für Lebensmittel in Quartiergebäuden. Jedes Mal, wenn ein neues Quartier oder eine neue Schule gebaut wird, sollte eine Käserei, eine Bäckerei oder einer Metzgerei mit eingeplant werden. Werden handwerkliche Verarbeitungsanlagen in Zusammenarbeit mit den betroffenen Verarbeitern geplant, können sie ihre Produkte (Nudeln, Getreideflocken, Säfte, Konserven usw.) zu vernünftigen Preisen im Quartier verkaufen, unabhängig von Grossverteilern und Weltmarkt. Das urbane Leben wird in jedem Quartier rund um die Ernährungspunkte geschaffen, auf Marktplätzen und in Quartierzentren, anstatt die ganze Geselligkeit in Mega-Einkaufszentren ausserhalb der Stadt zu verbannen.

Die Broschüre «Nachbarschaften entwickeln» (Neustart Schweiz) plädiert für ein urbanes Modell von Nachbarschaften, in denen zwischen 500 und 800 Menschen leben. Sie organisieren einen Teil ihrer Ernährung gemeinsam vor Ort, im Quartier, und einen anderen Teil in direkter Zusammenarbeit mit einem Bauernhof mit einer Agrarfläche von rund 80 ha. Die Verteilung ist eine Schnittstelle, ein vermittelnder Dienst zwischen den Produzenten und den Konsumenten. Heute wird das ganze Ernährungssystem von Grossverteilern beherrscht, welche das ganze System anhand ihrer eigenen Interessen organisieren.

Eine partizipative Verteilung, welche zwar wie ein Detailhändler gestaltet wird, aber als Kooperative organisiert ist, kann von den Bewohnern und Bauern gemeinsam verwaltet werden. Die Akteure der verschiedenen Branchen können sich unabhängig von den Grossverteilern treffen und ihre Funktionsweise mit den Endkonsumenten besprechen. Wenn wir direkt mit den Milch-, Fleisch-, Getreide- oder Ölproduzenten, mit den Früchte- und Gemüseproduzenten, den Bäckern, Metzgern, Milchverarbeitern und selbstverwalteten Supermärkten verhandeln, können wir selber auswählen, welche Art Ernährungssystem wir für unsere Quartiere wollen, unabhängig von der industriellen Wirtschaft. Solche Verwaltungsformen sind möglich, sofern in der Gemeinde ein politischer Wille besteht, die Bewohnerinnen und Bewohner des Quartiers mit einzubeziehen, und sofern die Gemeinde eine gewisse Kontrolle über die Immobilien hat, um den Quartieren die nötigen Räume für partizipative Genossenschaften zur Verfügung zu stellen.

Eine Schwierigkeit bei der Umsetzung eines solchen Modells ist es, einen Bauernhof zu finden, dessen Grösse und Produktionsverwaltung an die Versorgung eines Quartiers angepasst werden kann. Die meisten Bauernbetriebe sind zu gross und zu spezialisiert für eine entsprechende Funktionsweise. Die Landwirtschaft ist den grossen Marktakteuren ausgeliefert (Verteiler, Industrie). Ohne Unterstützung und ohne enge Zusammenarbeit mit den Bürgerinnen und Bürgern kann sie sich aus dieser technischen und finanziellen Abhängigkeit nicht mehr befreien.

Wenn die Stadtbewohner-Konsumenten und die Produzenten die Verbindungen zueinander wieder herstellen und gemeinsam arbeiten, ist eine rasche Rückkehr zur Ernährungssouveräntität möglich, das zeigen verschiedene vertragslandwirtschaftliche Projekte.

In Genf könnten theoretisch auf nur 3,5 % der Agrarfläche 200 solche Projekte für jeweils 100 Haushalte aufgebaut werden. So hätten 10 % der Genfer Bevölkerung die Möglichkeit, eine Beziehung zur Landwirtschaft herzustellen, ein unmittelbares Verhältnis von der Stallgabel zur Tischgabel. Ein kultureller Wirbelsturm.

Für die urbane und periurbane Landwirtschaft ist der Zugang zum Land ein grosses Problem. Um aus der Sackgasse zu finden, bräuchte es eine Reform des bäuerlichen Bodenrechts und des Landwirtschaftsgesetzes. Für Auszubildende und Studierende ist es äusserst schwierig, Landwirtschaftsland zu finden. Mit der Unterstützung der politisch Verantwortlichen und der Mithilfe von Urbanisten wäre es bestimmt möglich, gewisse Eigentümer oder Bauern zu überzeugen, einen Teil ihres Landes für Projekte zur Verfügung zu stellen, damit darauf die Nahrungsmittel eines Quartiers hergestellt werden könnten.

Die urbane Landwirtschaft kann ein sehr wichtiges Glied der Nahrungskette werden. Damit sie diese Verantwortung wahrnehmen kann, muss sie sich für die Landwirtschaft als Ganzes interessieren. Um die Bezeichnung «Landwirtschaft» zu verdienen, darf sich die urbane Landwirtschaft nicht auf Gärtchen oder Obstbäumchen zwischen den Häusern oder auf eine Verkaufsvitrine von lokalen Produkten beschränken. Sie muss an den Entscheiden der Ernährungssysteme mitwirken, alle Interaktionen zwischen Landwirtschaft, Ernährungssystem und Urbanismus identifizieren.

 

Rudi Berli
Übersetzung: Stefanie Schenk