Samstag, 11 April 2020
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Auch in einer globalisierten Welt handelt jeder Staat in der Krise für sich selbst. Die Anfälligkeit des internationalen Ernährungssystems angetrieben durch Effizienz- und Wertschöpfungssteigerung wird offensichtlicher. Wie sicher ist unsere Lebensmittelversorgung noch? Der Bundesrat hat immer betont, dass von den Grenzschliessungen der Güterverkehr nicht betroffen sei. Was wenn die globalen Warenströme ins Stocken geraten und Lieferengpässe zu erwarten sind?

Exportstopp und Restriktionen

Deutschland hat Anfangs März zur Sicherstellung des „lebenswichtigen Bedarfs“ einen Exportstopp für medizinisches Schutzmaterial erlassen und dadurch unter anderem eine Lieferung von Schutzmasken, die für die Schweiz bestimmt waren, an der Grenze gestoppt. Zudem hat Emmanuel Macron für Frankreich alle Atemschutzmasken beschlagnahmt. Das haben auch Spitäler in der Westschweiz zu spüren bekommen. Markus Häfliger, Bundeshausredaktor der Tamedia, schreibt der deutsche Exportstopp droht sich zum eigentlichen Handelsembargo gegen die Schweiz auszuweiten (Tagesanzeiger vom 11.3.20). Trotz Freihandelsabkommen unterstützte die EU die restriktive Haltung gegenüber der Schweiz. Erst als sie erkannte, dass die Schweiz über Medizinaltechnik verfügt, die in der EU benötigt wird, deren Lieferung aber dann im Gegenzug theoretisch ja ebenfalls unterbunden werden könnte, krebste sie zurück. In den vergangenen Wochen haben 55 Länder die Grenzen für medizinische Güter dichtgemacht. Hermann Dür, Vorstandsmitglied der Schweizerischen Vereinigung Industrie und Landwirtschaft (SVIL) kommentiert die Situation wie folgt: «Die derzeitigen Erfahrungen deuten darauf hin, dass Recht und Goodwill aus früheren Leistungen in der Not nur noch beschränkte Wirkung haben. Es wäre schwer zu begründen, warum das bei Nahrungsmittel anders sein sollte.»

Ernährungssicherheit in der Schweiz

Die Ernährungssicherheit wird am Selbstversorgungsgrad gemessen, dieser lag gemäss Agrarbericht 2019 bei 50% in 2017. Die Schweizer Landwirtschaft ist in hohen Masse abhängig von Dünger-, Saatgut- und fossilen Brennstoff-Importen. In der Bundesverfassung steht, dass im Fall «machtpolitischer oder kriegerischer Bedrohungen sowie in schweren Mangellagen, denen die Wirtschaft nicht selbst zu begegnen vermag» sicherzustellen ist, dass die Landesversorgung funktioniert. Deswegen betreibt der Bund Pflichtlager mit Zucker, Reis, Weizen und Weiteres für einen drei bis vier monatigen Bedarf. «Solange der Import läuft, gibt es keine Engpässe. Sollt sich das ändern, gibt es für Produkte wie beispielsweise Fette, Öle, Eier oder Zucker mit tiefem Selbstversorgungsgrad rasch Schwierigkeiten». Sagte Bauernpräsident Markus Ritter gegenüber dem Schweizer Bauer vom 21. März 2020.

Im 2007 gab es schon einmal einen Exportstopp in 40 Länder aufgrund der schlechten Ernte. Der Bundesrat argumentierte jedoch, dass mit Verboten von Exportrestriktionen und Exportzöllen die Importmöglichkeit ausländischer Nahrungsmittel abgesichert werden könne. Diese Haltung des Bundesrates kritisiert Hermann Dür, Unternehmer in der Lebensmittelindustrie und der Logistk. Er betont, «dass 1) Macht- und Souveränität mit Agrarfreihandelsabkommen zusammenhängen können. - Warum? Grundnahrungsmittel sind für die ganze Bevölkerung unverzichtbare und daher sensible Güter. Wer die Verfügungsgewalt über Nahrungsmittel hat, hat Macht über Andere. 2) Soweit Agrarfreihandel die Inlandproduktion durch Importe ersetzt, können Grundnahrungsmittel zu einem gewichtigen souveränitätspolitischen Pfand zu Lasten des Importeurs werden. 3) Dabei gilt: Je höher die Importabhängigkeit bei Grundnahrungsmittel ist (je tiefer also der Selbstversorgungsgrad), desto glaubwürdiger können Nahrungsmittel im internationalen „Powerplay“ eingesetzt werden. 3) Als Durchsetzungsintrumente kommen erfahrungsgemäss a) effektive Lieferunterbindung oder – heute wahrscheinlicher - b) Erpressung damit (via schwarze Listen, vage Andeutungen, Guillotineklauseln, etc.) in Frage.»

Macht sich die Schweiz erpressbar?

Zudem betont Hans Bieri, Geschäftsführer des SVIL, dass an der Pressekonferenz des Bundesrates vom 20. März 2020 auch das Thema „Transit“ von lebensnotwendigen Gütern (z.B. Schutzmasken, Desinfektionsmaterial) nochmals angeschnitten worden ist. «Es verstimmt, dass Frau Sommaruga gemäss ihrer Aussage von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen keine klare Anwort für ein Ja erhalten hat. Dies zeigt auf, dass sich die EU unschlüssig ist, ob sie der Schweiz aufgrund der bilateralen Verträge diesbezüglich die gleichen Rechte zukommen lassen will». Mit dieser Haltung der EU ist die Schweiz in einer Situation, in welcher sie sich erpressbar macht. Laut Bieri ist bereits dieses Zögern auch bei einem späteren Ja als Alarmsignal für alle weiteren Verhandlungen der Schweiz mit der EU bezüglich eines Rahmenabkommen zu werten!

Folgen im Inland von «ausserordentlicher Lage» für die Bauern

Seit der Bundesrat beschlossen hat, dass alle Bauernmärkte nicht mehr stattfinden können, bricht für viele Bäuerinnen und Bauern ein wichtiges Einkommensstandbein weg. Hinzu kommt, dass viele eingelagerte Produkte nicht mehr verkauft werden können. Daher hat der Verein der Berner Märkte einen offenen Brief an Bundesrätin Sommaruga geschrieben. Es sei nicht gerechtfertigt, dass die Grossverteiler noch offenbleiben, aber die Märkte schliessen müssen. Wenn die Richtlinien des Bundes eingehalten werden können, sollte es möglich sein, auch an einem Markt ohne höheres Verbreitungs-Risiko der Corona-Viren einzukaufen. Kopfzerbrechen bereiten auch die geschlossenen Grenzen die die Einreise von den tausenden von Erntehelfer*innen nicht garantiert. Wie Philipp Bösiger, Geschäftsführer der Bösiger AG aus Niderbipp, einem der grössten Gemüseproduzenten der Schweiz, gegenüber der NZZ sagte: «Fehlt das nötige Personal, können wir die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln nicht aufrechterhalten».

Welche Lösungsansätze gibt es?

Die Schweiz hat seit 1918 keine Hungersnot mehr gehabt. Damit ist unser Risikobewusstsein nicht mehr präsent. Da die AP22+ gerade in Bearbeitung ist, wäre es sinnvoll, wie Hermann Dür betont, folgende Anpassungen zu gewährleisten: «Wir brauchen eine Agrarpolitik, die 1. unseren Selbstversorgungsgrad sicher nicht noch weiter reduziert, die 2. für Landwirte echte finanzielle Anreize schafft, um in der Schweiz zu produzieren (was den Kürzungen von Direktzahlungen entgegensteht), 3. die davon ausgeht, dass Dritte nicht immer Nahrungsmittel für uns zur Verfügung haben, und dass 4. diese nicht immer störungsfrei aus dem Ausland angeliefert werden können. Die bittere Wahrheit ist: Wir brauchen eine starke schweizerische Agrarpolitik für eine Welt, in der leider nicht immer alles funktioniert! »

Die Schweiz braucht offene Grenzen. Jedoch sollte die Strategie des Agrarfreihandels überdacht werden. Wenn wir das Konzept der Ernährungssouveränität besser umsetzten würden, hätten wir eine standortgerechte regionale Landwirtschaft, welche gesunde Nahrungsmittel für die Bevölkerung produziert und auch im Krisenfall robust dasteht, so dass wir uns nicht erpressbar machen.

Martina Brun, studierte Ökologische Wirtschaft und Politik, arbeitet aktuell auf einem Bio-Betrieb und engagiert sich in der Sektion Luzern von Uniterre.